Juristen-Kongress


„Er war der beständige Beschützer, der stete Verteidiger der Schwachen und Unmündigen. Deshalb gehörte auch sein ganzes Herz, mit allen den Tränen, die darin verborgen waren, den Kindern. Auf jeder Seite seiner Schriften ertönt der Ruf, der Kinderseele ein aufmerksames, liebevolles Studium zu widmen, dieser Seele, welche so frühzeitig schon mit dem herben Realismus des Lebens in Berührung kommt. Dieser Zug, den er mit Dickens gemein hat, wirft ein eigenes Licht auf alle seine Schriften. Nur ein wahrer Künstler mit zärtlich liebender und mitfühlender Seele konnte so einfach, so wahr und so aus dem Herzen erzählen, wie die bittere Wirklichkeit des Lebens sich des Kindes bemächtigt, wie es entrüstet ist, wie es leidet und wie sein Herz bei jeder Ungerechtigkeit und Härte blutet.


Ja, er liebte die Kinder unendlich und tat alles, was in seinen Kräften stand, in Wort und Tat, um sie vor Vergewaltigung und bösem Beispiel zu schützen. Man muss ihn, wie ich, gesehen haben in der Kolonie für jugendliche Verbrecher und in den Räumen des litauischen Gefängnisses, seine kunstlosen, einfachen Worte gehört haben. Es war kein einziger Misston darin. Er kannte sie und sie glaubten an ihn, kamen mit Liebe ihm entgegen, horchten auf ihn mit ernster und inniger Aufmerksamkeit und ihre Bitten, ,noch mehr zu erzählen' oder wiederzukommen, musste man gehört haben, um verstehen zu können, welche innerliche Verwandtschaft seine vielliebende Seele mit der Seele dieser Kleinen hatte.

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Die Verteidigung des verletzten, niedergetretenen Rechts war sein schönster Beruf, ihm stand die Persönlichkeit und die Würde des Menschen, auch des allerniedrigsten und verachtetsten, am höchsten. Er hat sein ganzes Leben hindurch die Gerechtigkeit gesucht und ihr hat er aufs eifrigste gedient. Durch all sein Tun zieht sich, wie ein mit Tränen befeuchteter Faden, die Forderung nach Barmherzigkeit und Nachsicht, nach Verständnis für die Gefallenen und Unglücklichen. Aus den schweren Jahren seiner Verbannung in Sibirien hat er ein liebendes und verzeihendes Herz mit heimgebracht und das von ihm ausstrahlende Licht erleuchtete manche dunkle Abgründe."


Quelle: Magazin für die Literatur des In- und Auslandes Nr. 6 (München 1879-1883)
Autor: Wilhelm Henckel (erschienen zum Zeitpunkt, da Orest Miller die erste Biographie über Dostojewski erstellte)